Ob es deutschen Kindern wohl schadet, fragt sich Timu, wenn ihre Mütter sie berühren? Keine Frau trägt ihr Baby auf dem Arm, das ist ihm gleich aufgefallen. Die Kleinen liegen ganz allein in ihren Kinderwagen. So erzieht man Individualisten, glaubt Timu. Kein Wunder, dass deutschen Kindern ihre Eltern nicht so wichtig seien. Schon die Kleinen seien vor allem mit sich selbst beschäftigt - zuerst mit den eigenen Stimmungen, dann mit dem eigenen Tun. Das könne man spüren, selbst wenn man ihre Sprache noch nicht verstehe.
Timu Thomas (25) ist Programmierer bei der Wiesbadener Firma Case Consult. Gemeinsam mit seinem Kollegen Senin Sisupalan (27) ist er vor knapp vier Wochen als einer der ersten Inder mit einer Green Card nach Deutschland gekommen. Über seinen ersten Monat hat er Tagebuch geführt:
Als ich mich von meinen Eltern verabschiede, schießen mir Tränen in die Augen. Vielleicht wird mir erst jetzt klar, dass ich sie ein Jahr lang nicht sehen werde. An Bord der Maschine der Kuwait-Airways merke ich, dass viele Menschen so fühlen wie ich. Sie schauen aus den Fenstern auf ihr Heimatland - und verabschieden sich für eine lange Zeit . . . Einen Vorgeschmack auf die schwere Erfahrung, die vor uns liegt, bekommen mein Kollege Senin und ich beim Bordfrühstück. Es schmeckt nach gar nichts. Pilze und Rührei - ohne jegliche Gewürze zubereitet. . . . Vom Flughafen Frankfurt holt uns Thomas Bischoff, (kaufmännischer Leiter von Case Consult; d. Red) ab und bringt uns in unsere Wohnungen. Wir sind traurig, dass wir in verschiedenen Appartements wohnen müssen, die auch noch so weit auseinander liegen.
"Die beiden müssen lernen, selbstständiger zu werden", erklärt Case-Consult-Geschäftsführer Mario Zaleski. Drei Jahre lang will er die Programmierer in der Wiesbadener Zentrale ausbilden. "Sie sollen sich nicht verbiegen und zu Deutschen werden. Aber sie sollen unsere Kultur verstehen und lernen, auf eigenen Beinen zu stehen." Dann, so die Abmachung, gehen Timu und Senin zurück zu Case Consult Trivandrum, der Tochterfirma im südindischen Bundesstaat Kerala. Dort warten Führungsaufgaben auf sie. "Da brauche ich Manager und keine Jasager."
Unser Kollege und Mentor Michael Deharde holt uns von unserer ersten Deutschstunde an der Volkshochschule ab. Es ist ein gutes Gefühl, in diesem fremden Land jemanden zu haben, der einem hilft und den Weg weist. Vor Senins Appartement treffen wir Jungen, die Fußball spielen. Sie machen komische Geräusche und rufen uns auf Deutsch etwas zu, das wir nicht verstehen. Im Gesicht unseres Mentors können wir lesen, dass es nichts Freundliches ist . . . Nach der Arbeit stehen Senin und ich an der Haltestelle vor unserem Büro und warten auf den Bus. Plötzlich kommt ein kleiner Junge mit seiner Schwester auf uns zu, und sie fragt: "Wie viel Uhr ist es?" "Dreißig nach sechs", antwortet Senin. Ich überlege und sage dann: "halb sieben". Das kleine Mädchen scheint zufrieden zu sein, und wir sind glücklich, als uns klar wird, was wir gerade getan haben: Wir haben auf Deutsch mit einem deutschen Mädchen gesprochen, und sie hat uns verstanden!
Lieber noch als mit Kindern sprechen Timu und Senin mit alten Leuten, erzählen sie. Die nähmen sich, selbst wenn sie kein Englisch verstünden, immer die Zeit für ausführliche Erklärungen. So wie Senins Nachbar, der ihm geholfen hat, einen verbogenen Haustürschlüssel zu reparieren und die Waschmaschine im Keller zu bedienen. "Alle jüngeren Deutschen scheinen dagegen immer in Eile zu sein", findet Senin.
Mit einer Telefonkarte für zwölf Mark rufe ich zu Hause an. Meine Eltern sind überglücklich, meine Stimme zu hören. Von meiner Firma wussten sie schon, dass ich gut angekommen bin, aber es ist wichtig, dass sie es von mir selbst hören. Ich habe noch kaum etwas erzählt, da ist die Karte schon abgelaufen. In Indien habe ich fast jeden Tag 20 bis 30 Minuten mit meinen Eltern telefoniert. Jetzt bleiben mir nur wenige Minuten an den Wochenenden. Ich vermisse meine Eltern sehr. Die einzige Hilfe sind ihre Fotos, die ich mitgebracht habe.
In ihrem ersten Jahr in Deutschland verdienen Timu und Senin 77 400 Mark brutto. Das schreibt die Green-Card-Verordnung als Mindestgehalt für Hochschulabsolventen vor. Die Firma zahlt davon Steuern, Sozialabgaben und Versicherung, die Miete für die Appartements, Monatskarten für Bus und Bahn und den Deutschkurs an der Volkshochschule. Den Rest zahlt Case Consult den beiden in bar aus und zwar wöchentlich. Am Ende des Jahres gibt es einen zusätzlichen Bonus. "Die Inder rechnen lieber in Wochengehältern", sagt Mario Zaleski. Frühere Trainees aus Indien hätten den monatlichen Gehaltszettel mit all den Posten und Abzügen und den Gang zur Bank viel zu kompliziert gefunden.
Wir haben unser erstes Gehalt bekommen. Es waren 629 Mark, 229 für die Tage der ersten Woche und 400 Mark für diese Woche. Ich frage mich, warum wir wohl pro Woche und nicht pro Monat bezahlt werden. Und warum bekommen wir unser Geld auf die Hand, obwohl es selbst in Indien auf ein Bankkonto überwiesen wurde? Wer weiß! Wir werden wohl irgendwann einmal nachfragen.
Glücklich sind Timu und Senin, dass sie im Rhein-Main-Gebiet schon einige Inder getroffen haben. Am sechsten Tag in Deutschland stand Senin bei der Post für Briefmarken an, als er eine Frau im Salwar sah, einer typischen indischen Frauenkleidung aus weiten Hosen und einem langen Oberteil. Er sprach sie an, und Senin und Timu waren noch am selben Abend bei ihrer Familie zum Essen eingeladen. "Von dort aus riefen wir auch Freunde der Familie in Rüsselsheim an, die genau wie wir aus Kerala kommen." Zwei Wochenenden haben Senin und Timu seitdem bei ihren Rüsselsheimer Landsleuten verbracht. Die leben schon seit 30 Jahren in Deutschland. Ihre drei Kinder sind hier geboren und aufgewachsen. "Manchmal macht es den Eltern Sorgen, dass sie kaum noch indische Wurzeln haben und die Familie nicht so wichtig nehmen", erzählt Timu.
Heute ist mein Geburtstag, mein erster Geburtstag in einem fremden Land. Also stehe ich früh am Morgen auf und meditiere einige Zeit . . . Bei der Arbeit gratulieren mir mein Chef und die Kollegen. Ich bin das "Geburtstag-Kind". Im Supermarkt kaufe ich Schokolade. Für 50 Mark. Ich habe geglaubt, dass mit dem Preis auch die Qualität steigt. Stattdessen ist Alkohol in der Schokolade. So etwas gibt es bei uns in Indien nicht.
"Er hatte vier Packungen Asbach-Uralt-Weinbrandbohnen gekauft", erzählt Mentor Deharde und lacht. Dabei habe er ihm angeboten, ihn in den Supermarkt zu begleiten. Aber Timu wollte sich allein durchschlagen. "Da hatten wir dann ausnahmsweise nachmittags Alkohol in der Firma."
Timu und Senin kaufen jeden Abend im Supermarkt ein. "Dort kann man sich in den Regalen suchen was man braucht und muss nicht verzweifelt versuchen, sich an der Ladentheke verständlich zu machen", erklärt Senin. Danach fahren sie gemeinsam in Senins Wohnung, kochen und reden. An diesem Abend gibt es Wiener Würstchen, die sie erst abkochen, dann in kleine Scheiben schneiden und in Öl anbraten. Dazu Rührei, Reis, Joghurt und scharfe Saucen, die Senin aus Indien mitgebracht hat. Scharfe Gewürze sind hier etwa 20 Mal so teuer wie daheim. Spät am Abend, so gegen halb zwölf, fährt Timu mit dem Bus in sein Appartement.
Ich frage mich immer noch, warum uns die Firma in zwei Wohnungen gesteckt hat, die auch noch so weit voneinander entfernt sind. Wir haben niemals einen solchen Wunsch geäußert, und bis zum letzten Tag vor unserer Abreise aus Indien wussten wir nichts von zwei Appartements. Das ist wohl die deutsche Art, Dinge zu tun. Sie sind Individualisten.
Mäßiger Erfolg für die Green Card
Der erwartete Ansturm auf die Green Cards für ausländische Computerexperten ist bisher ausgeblieben. In den ersten zehn Wochen seit dem Start der Initiative haben die deutschen Arbeitsämter nur knapp 2500 Karten vergeben. Dabei ging die Zahl der Green-Card-Empfänger von Woche zu Woche zurück. Die Wirtschaft zeigt sich dennoch zufrieden mit der Initiative der Regierung. "Es ist uns gelungen, innerhalb von zwei Monaten zusätzlich ein Drittel eines deutschen Informatikerjahrgangs zu rekrutieren", sagte ein Sprecher der Bitkom. Der Branchenverband hatte beklagt, in der deutschen Informationstechnologie (IT) fehlten 75 000 Fachkräfte. Diese Schätzung reichte jedoch vom Lehrling bis zum Forscher. Die Green Card richtet sich allein an hoch qualifizierte Kräfte mit hohen Einkommen. Wer keinen Hochschulabschluss vorweisen kann, muss der Regierungsverordnung zufolge in Deutschland mindestens 100 000 Mark im Jahr verdienen. Für alle anderen Green-Card-Inhaber gilt ein Mindestgehalt von 77 400 Mark. Nach dem Beschluss der Regierung vom August sollen zunächst 10 000 IT-Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten eine auf maximal fünf Jahre befristete Arbeitserlaubnis in Deutschland erhalten. Je nach Bedarf kann diese Zahl auf bis zu 20 000 aufgestockt werden. Bisher haben die Behörden 2449 Green Cards vergeben. 440 davon gingen an Inder, 384 an Russen, Weißrussen, Balten oder Ukrainer. Der Großteil der Spezialisten wird in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen arbeiten. Sachsen Anhalt hat bisher noch keine einzige Green Card ausgestellt.