Still wird die Mutter seine Hand nehmen. Ihr ganzer Abschiedsschmerz in die zarte Geste verpackt. Keine innige Umarmung, kein lautes Wehklagen - das schickt sich nicht in der Öffentlichkeit. Dann wird Senin gehen. Die gläserne Schiebetür vom Flughafen Trivandrum wird sich hinter ihm schließen.
Dicht gedrängt werden sie stehen, hinter der silbernen Absperrung. Mutter Sudha und Vater Sisupalan, die Schwester Silja mit ihrem kleinen Sohn Arjun und ihrem Mann Ruby, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen. Frauen in farbenfrohen Saris. Männer in weißen Mundus, gewickelten, knöchellangen Röcken mit weiten Oberhemden darüber. Dicht gedrängt werden sie stehen unter Hunderten von anderen Müttern und Vätern, Tanten und Onkeln, die alle gekommen sind, jemanden zu verabschieden und Glück zu wünschen für eine lange Reise.
In Deutschland dann, da ist sich Senin sicher, wird es leer sein. Leer und kalt. Kaum Menschen am Ausgang des Flughafens, kaum Menschen auf den blank geputzten Straßen. Geschäftsleute in grauen Anzügen, die nach Feierabend in ihre Häuser huschen. Keine Zeit für einen Plausch mit den Nachbarn.
Senin Sisupalan soll in der ersten Septemberwoche mit einer Green Card nach Deutschland reisen. Die Arbeitserlaubnis für ihn und seinen Kollegen Timu Thomas ist auf dem Postweg nach Indien. Senim und Timu arbeiten als Programmierer bei der Firma Case Consult in Trivandrum im südindischen Bundesstaat Kerala. Die Muttergesellschaft sitzt in Wiesbaden. Dort sollen die beiden drei Jahre lang an Softwareprojekten mitarbeiten, um dann in die indische Filiale zurückzukehren. Einen Heimflug im Jahr zahlt die Firma.
Aus dem Fenster des Großraumbüros im Technopark Trivandrum blickt Senin über ein Tal von Kokospalmen. Am Horizont werden Meer und Himmel eins. "Kerala, das hat schon etwas Paradiesisches", sagt der 27-jährige Informatiker. Dann zählt er gewissenhaft "eine Reihe von guten Gründen" auf, nach Deutschland zu gehen. Erstens verdient er dort deutschen Lohn, von dem er einiges sparen kann. Zweitens lernt er neue technische Details. Und drittens hat er die Chance, eine fremde Kultur zu erleben und eine neue Sprache zu lernen.
Mit fast entschuldigendem Lächeln - er will ja niemanden kränken - berichtet Senin dann von seiner größten Sorge. In der Zeitung und im Internet hat er gelesen, dass Deutsche Inder beschimpfen, sie sogar angreifen. "Ich hoffe, das ist nur in Ostdeutschland so und nicht in Wiesbaden", sagt der schmale junge Mann mit der für einen Inder besonders dunklen Hautfarbe. Eigentlich seien die Neonazis ja vor allem für die Deutschen ein Problem. Wenn die so weitermachten, wolle bald niemand mehr nach Deutschland kommen, und die Fachkräfte würden immer knapper. Eins ist klar: Wenn er beschimpft wird, geht er. Überhaupt will Senim auf keinen Fall länger als drei Jahre von zu Hause weg sein.
Zu Hause, das ist ein kleines, zinnoberrot gestrichenes Haus unter Kokospalmen, 8000 Kilometer entfernt von Wiesbaden und 2000 Kilometer von der indischen Hauptstadt Neu-Delhi. Dort ist Senin aufgewachsen und dort leben, seit die Tochter verheiratet wurde und der Sohn in der Stadt arbeitet, die Eltern allein. Jedes Wochenende fährt Senin heim. Eineinviertel Stunden mit dem Bus von Trivandrum über holprige Landstraßen bis ins kleine Dorf Vakkom. Dann kochen Mutter und Schwester für die ganze Familie. Sie holen Wasser aus dem kleinen Brunnen, sammeln Gemüse und Gewürze im Garten rund um das Haus. Dort wachsen Auberginen und roter Spinat, Bananen und Bohnen, Basilikum und Ingwer und natürlich - wie überall in Kerala - Kokosnüsse. Die gaben dem flächenmäßig kleinsten südindischen Bundesstaat seinen Namen. Kerala heißt Kokospalme auf Malayalam, der Sprache der Region.
Gäste empfängt die Familie in einem kleinen Anbau des Hauses. Korbstühle und zwei Holzsofas mit bunten Kissen stehen um einen schwarzen Philips-Fernseher. Die Wände sind minzgrün gestrichen. Ein Regal mit blinden, gläsernen Schiebetüren schützt einen bunten Kassettenrekorder, einen Plüschteddy, einen großen blauen Plastikwecker und drei kleine Vasen mit Plastikblumen vor der feuchten Tropenhitze.
"Wir sind froh, dass Senin in seinem Beruf gut zurechtkommt", sagt die Mutter beim Milchkaffee. Zwar sei der Junge noch nie länger als zwei Wochen von zu Hause weg gewesen. Aber wenn es "seine Mission ist, nun nach Deutschland zu gehen, dann ist das gut so". Senins Mutter Sudha ist Hausfrau, ihr Mann Sisupalan pensionierter Finanzbeamter. Senin ist Teil ihrer Altersvorsorge. Ein Großteil des Ersparten ist für die Hochzeit der Tochter verbraucht. Einiges Geld haben die Eltern in die Ausbildung ihrer beiden Kinder gesteckt. Senin ist studierter Informatiker. Seine Schwester hat ein Diplom in Elektrotechnik.
Die Keraliten sind stolz auf ihr Bildungssystem. Über 90 Prozent der Bewohner des Palmenstaats können lesen und schreiben - fast doppelt so viele wie in anderen Regionen Indiens. Die Schulen und Universitäten sind überdurchschnittlich gut ausgestattet. Die seit 1957 über weite Strecken kommunistische Regierung steckte pro Kopf mehr Geld in den Bildungssektor als alle anderen Bundesstaaten. In den Jahren 1997 und 1998 flossen 4,7 Prozent des Bruttosozialprodukts Keralas in die Ausbildung. In Deutschland waren es 3,7 Prozent.
Allein die 21 Fach-Colleges entlassen jedes Jahr rund 4000 Ingenieure auf den Arbeitsmarkt. Doch Jobs für Akademiker sind rar. Da bleibt vielen Keraliten nur die Emigration. 30 Millionen Menschen wohnen in dem schmalen Küstenstreifen am Südwestzipfel Indiens. Fünf Millionen Keraliten, so schätzt die Landesregierung, leben in anderen indischen Bundesstaaten, weitere drei Millionen im Ausland. Sie arbeiten als Buchhalter in den Golfstaaten, Computerexperten in den USA, Ingenieure in Europa.
"Unsere Mitarbeiter brauchen Toleranz und Anpassungsfähigkeit, um in Deutschland zurechtzukommen", weiß Ajit Nambissan, Chef von Case Consult India. Er selbst hat Anfang der neunziger zwei Jahre in Deutschland gelebt und sieht für Senin und Timu zunächst ganz praktische Probleme: "Die beiden müssen kochen lernen, wenn sie überleben wollen", sagt er. Keraliten essen drei Mal am Tag warm: Reis, Gemüse und je nach Glaubensrichtung auch Fleisch - alles kräftig gewürzt. "Da ist einem das deutsche Essen anfangs viel zu laff." Auf den Alltag in Europa bereitet Ajit seine Mitarbeiter in einer täglichen Deutschstunde vor. "Jenny sagt Guten Tag. Urs sagt Grüezi", bläut Lehrer Kamath zehn aufmerksamen Schülern in der Mittagspause ein. Case Consult sieht das Green-Card-Projekt vor allem als Fortbildungsmaßnahme. "Schließlich sind wir eine deutsche Firma. Da kann es doch nur gut sein, wenn unsere Mitarbeiter auch die deutsche Arbeitskultur kennen lernen", erklärt Ajit. Die sei organisierter und disziplinierter als in Indien. Zudem werde Kritik viel direkter geäußert. "Damit musste ich auch erst lernen umzugehen", erzählt der Manager. Inder arbeiten zwar chaotischer, aber auch kreativer als Deutsche, findet er. "Wir müssen ein Projekt nicht erst bis ins Detail durchplanen, bevor wir anfangen, Probleme zu lösen."
Timu (24) ist gespannt auf seine Zeit in Deutschland. Zwar war er, wie sein Kollege Senin, schon einmal für eine knappe Woche in Wiesbaden. "Aber dort zu leben ist natürlich noch etwas ganz anderes." Die Abreise könnte sich seinetwegen jedoch etwas verzögern. Es steht ein Familienfest an. Timus drei Jahre älterer Bruder soll heiraten. Nur die passende Frau haben die Eltern noch nicht gefunden.
Am kommenden Wochenende ist ein Treffen mit einer Kandidatin und ihrer Familie arrangiert. Die Horoskope der beiden jungen Leute passen zusammen, finden sie bei ihrem ersten Gespräch dann noch Gefallen aneinander, wird ein Hochzeitstermin festgesetzt. Die Gästeliste - zu einer Hochzeit in Kerala kommen meist über 1000 Menschen - ist fast fertig. "Wir hoffen alle, dass wir die Hochzeit noch vor meiner Abreise feiern können", sagt Timu.
Erst im nächsten September, zum Ende der Regenzeit, werden Timu und Senin wieder zu Besuch kommen. Dann feiern Hindus, Moslems und Christen in Kerala Onam - das Fest des Königs Mahabali. Ein Mal im Jahr, so die Legende, kehrt der Herrscher zurück, unter dem alle Menschen gleich waren und glücklich zusammenlebten. Die Keraliten begrüßen ihren geliebten König mit prachtvollen Blumengestecken und traditionellen Tänzen.
Bis dahin wird Senins Mutter Sudha jeden Tag in Gedanken bei ihrem Sohn sein. Jeden Abend wird sie in ihrem kleinen Haus die goldene Öllampe und ein Räucherstäbchen anzünden. Sie wird damit durch das Wohnzimmer und durch Senins mintgrün gestrichenes Schlafzimmer gehen und die bösen Geister vertreiben. Und sie wird die Götter um Hilfe bitten. Auch sie hat gehört von der Ausländerfeindlichkeit in Deutschland, von Hetzjagden und Beschimpfungen, und von einem Politiker namens Jürgen Rüttgers, der den Wahlspruch "Kinder statt Inder" ausgegeben hatte. Senin wird keine Öllampe und keine Gottesbilder mit nach Deutschland nehmen. "Ich bin nicht sehr religiös", sagt er. Aber vielleicht besucht er vor seinem Abflug doch noch den Elefantengott, so wie es sein Chef Ajit getan hat, als er die Firma gründete.
Der Tempel des Elefantengotts steht an einer befahrenen Verkehrskreuzung in Trivandrum. Schwarze Betonsäulen am Eingang tragen einen neonbeleuchteten Gebetszug. Darüber sitzen fleischfarbende Elefanten mit Menschengesichtern, dicken Bäuchen und vielen Armen. Die Arme braucht der Gott, um die Menschen vor dunklen Bösewichtern zu beschützen. In die Vorhalle des Tempels ist ein Bassin aus schwarzem Beton eingelassen. Dort hinein wird Senin eine Kokosnuss schleudern, so dass sie zerschellt. Und das wird ihm Glück bringen für seine Reise nach Deutschland.